Das Kreuz hat immer die Dimension, die der Betrachter zulässt. Das Zeichen des Kreuzes ist so alt wie die Welt, als Baugerüst der Schöpfung verbindet es oben und unten, rechts und links miteinander, ist Grundlage jeden Gefüges, jeden Gewebes, durchwirkt auch den Mikrokosmos der Leibesstruktur.
Erst seit annähernd 2000 Jahren ist das Kreuz mit dem christlichen Geschehen und Auftrag zutiefst in die Menschheit eingewurzelt. Wie weit der Mensch sich auch von dieser Glaubensmitte entfernt – ob er kreuzfidel oder kreuzunglücklich ist, ob er die Klingen kreuzt im Kampf unterschiedlicher Meinungen, ob sein Weg sich hundertmal mit anderen Wegen kreuzt, um seine bestimmte Richtung zu fordern; ob Mönche seit Hunderten von Jahren die langen Gänge ihrer Kreuzwege durchschreiten, deren gerader Lauf regelmäßig von hereinbrechendem Licht und Schatten durch die kunstvollen Bogenbegrenzungen durchkreuzt wirkt – immer hat das Kreuz die Dimension, die der Betrachter zulassen kann.
Als Urgrund des Christ – Seins, hat das Kreuz durch alle Zeiten die Kunst gebraucht als Mittler zum Erspüren des unauslotbaren Geschehens am Kreuz – ob in Wort, Bild oder Ton. Die Schau des wahren Künstlers kann in Tiefen vordringen, deren Dunkelheit nur durch Lichtstrahlen aus der Erleuchtung von Mystikern durchbrochen werden kann. So ist die Kunst immer auch Spiegel im Wandel der Zeit. Der Christus der Romanik verkündet anderes als der Christus der Gotik, des Barock oder des „Heute“.
Annähernd 1000 Jahre kennt die Kirche keinen Kruzifixus sondern nur das mit Juwelen geschmückte Kreuz mit 4 gleichlangen Armen in feinster Goldarbeit – ein strahlendes kosmisches Kreuz, als Kompass – Rose zur Wahrnehmung des Lebensweges verstanden.
Die Vierung als Zentrum wurde dem Haupt Christi zugeordnet und am kostbarsten gestaltet. Erst gegen Ende des 1. Jahrtausends wurde zunächst als schemenhafte Gravur - eine Darstellung des Gekreuzigten sichtbar.
Im berühmten Berthold Sakramentar aus Weingarten von 1215–1217 wird Christus am Kreuz als Lebensbaum dargestellt: Ohne Wundmale verschmilzt sein Korpus mit Wachsen und Verästelung des Baume:
150 Jahre später wird Christus am Lebensbaum des Kreuzes dargestellt, jetzt mit den Wundmalen des Gekreuzigten (Gnadenbild der Stadtpfarrkirche Himmelfahrt in Weilheim):
Um die Jahrtausendwende wird der Gekreuzigte als siegreicher Christus mit segnend ausgebreiteten Armen und gekröntem Haupt als Überwinder des Todes erlebt. Spätere Generationen verkörpern dagegen Schmerz und Leid, stellen den geschundenen Leib des Gekreuzigten dar – die Kreuzes-Not muss den Betrachter treffen.
Im 20. Jahrhundert scheuen die Darstellungen oft vor irdischen Grausamkeiten nicht zurück. Aber die Suche nach einer Transparenz für das Geschehen am Kreuz, für das Unfassliche der Kreuzigung, bahnt Strömungen in eine andere Geistesschau an: Altgewordene Betrachtungsweisen und Erlebniswerte müssen ihre Richtung ändern, gesucht wird eine kosmische Dimension des Christus; das Kreuz weist in der Vertikalen weit über uns hinaus, weist zum Himmel – die Horizontale wird in dieses Aufwärts mitgerissen. Ein Werk von Meide Büdel in der Preungesheimer Kreuzkirche spricht diese Sprache:
Ein schmales Kreuz aus blankem Eisenstahl hoch über dem Altar schein schwerelos und doch nach oben die Wandung durchdringend; der kurze, hoch angesetzte „Querbalken“ – die Horizontale – ist leicht nach vorne gewölbt wie ein gespannter Bogen für den Höhenflug der Vertikalen des Kreuzes. Diese aufs Äußerste reduzierte Formensprache vermittelt äußerste Kreuzestiefe; sie bildet ein neues Kraftzentrum in einer alten Kirche und bleibt doch in Harmonie mit dem Geist dieser Kirche.
Wir suchen mit dem Sichtbarmachen des Kreuzesbaumes im Christbaum einen Weg durch die Passionszeit. Unter dem lichterhellen Weihnachtsbaum freuen wir uns über die Geburt Christi; der Kreuzesbaum ist Künder des Todes und des Grabes; noch ist das Geschehen der Auferstehung verborgen. Mit der dunkelsten und stillsten aller liturgischen Farben – Violett – verhüllen wir den Auferstandenen, das Auferstehungsfenster über dem Grabe. Violett symbolisiert den Übergang vom Alten zum Neuen Leben und erst mit dem Ostersonntag – dem Tag der Auferstehung – vollendet das Kreuz seine Bestimmung. Die Freude auf diesen Tag über das Fest der Geburt mit dem Lichterbaum und der Macht des Kreuzes mit dem Lebensbaum mögen uns ergreifen. Herrmann Hesse sagt: „Bäume sind für mich immer die eindringlichsten Prediger gewesen. Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.“
Dr. Ingrid Strauß
Quellenhinweise: „Ein Buch von Gold und Silber“, von Hans Ullrich Rudolf, 1997. Kirchenführer Kunstverlag Josef Fink 2013 „Die Kirchen und Kapellen in der Pfarrgemeinschaft Weilheim i. Obm., Helmut Ammann, Tagebuch 1977, 1997. Frankfurter Rundschau 27.10.1913 „Neuer Altar als Kraftzentrum in der frisch renovierten Kreuzkirche in Preungesheim“.